Konzept des wahrgenommenen Risikos

Der Begriff des wahrgenommenen Risikos wurde erstmals explizit von Bauer 1960[1] in die Literatur zum Konsumentenverhalten eingeführt. Subjektive Annahmen über die Wahr­schein­lichkeit der Nicht-Reali­sierung angestrebter Ziele und die sich aus der Nicht-Realisierung erge­benden Folgen werden als wahrgenommenes Risiko (perceived risk) definiert.[2] Das wahrge­nommene Risiko beschreibt, wie Individuen komplexe Kaufsituationen wahrnehmen und nicht, wie sich die Situation aus Sicht eines objektiven Beobachters darstellt. Die objektive Sichtweise wird dagegen in der Entscheidungstheorie verwandt. Die Wahrnehmung eines Risikos impliziert – so die Hauptthese des Modells – ein Bemühen des Konsumenten, dieses Risiko so weit als möglich zu verringern.

Es gibt verschiedene Konzepte des wahrgenommenen Risikos. Am weitesten verbreitet ist das Zwei-Komponenten Modell von Cunningham.[3] Cunningham benutzt in seinem Aufsatz lediglich eine opera­tionale Definition. Risiko kann danach durch die beiden Faktoren Unsicher­heit und Konsequenzen be­schrieben werden.

Die Unsicherheit mißt Cunningham mit folgendem Item:

„Would you say that you are: very certain; usually certain; sometimes certain; or almost never certain that a brand of headache remedy (fabric softener, dry spaghetti) you haven´t tried will work as well as your present brand?“[4]

Die Konsequenzen mißt Cunningham mit folgendem Item:

„We all know that not all products work as well as others. Compared with other products, would you say that there is: a great deal of danger; some danger; not much danger; or no danger in trying a brand of headache remedy (fabric softener, dry spaghetti) you never used before?“[5]

Es gibt noch andere Zwei-Komponenten-Modelle des wahrgenommenen Risikos. Uneinigkeit herrscht zwischen diesen vor allem hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der beiden Kom­ponenten. Während Cunningham diese Unsicherheit und Konsequenzen nennt, heißen sie bei Hansen[6] und Bett­man[7] Unsicherheit und Wichtigkeit. Weder Bettman und Hansen noch Cunningham können sich zu einer differenzierten Gewichtung der beiden Komponenten entschließen und lassen deshalb beide mit gleichem Gewicht in die Berechnung eingehen. Das wahrgenommene Risiko berechnet Cunning­ham aus der Multiplikation der beiden Fakto­ren.

Dem Konzept von Cunningham wird im weiteren gefolgt, weil es besonders leicht zu operationa­lisieren ist und vermutlich gerade deshalb häufig Anwendung findet.

Bei den im folgenden dargestellten Sachverhalten sollte nie aus den Augen gelassen werden, daß starke Korrelationen zwischen dem wahrgenommenen Risiko und einer ganzen Reihe von Persönlichkeitseigen­schaften wie Selbstbewußtsein, Risikotoleranz etc. existieren.[8] Dadurch können die dargestellten Zusammenhänge je nach Person unter­schiedlich ausfallen.


[1] vgl.: Bauer, R. A., (1967)

[2] vgl.: Bauer, R. A., (1967)

[3] vgl.: Cunningham, S. M., (1967b)

[4] vgl.: Cunningham, S. M., (1967b), S. 84

[5] vgl.: Cunningham, S. M., (1967b), S. 84

[6] vgl.: Hansen, F., (1972)

[7] vgl.: Bettman, J. R., (1973)

[8] vgl.: Schaninger, C. M., (1976)

Unsicherheit durch Qualitätsvarianz

Die Unsicherheit in der Kaufentscheidungssituation ist gleich der wahrgenommenen Wahr­schein­lich­keit, daß bestimmte Konsequenzen eintreten. Diese Unsicherheit ist zum einen auf die Qualitäts­ver­teilung, die zwischen den Marken innerhalb der jeweiligen Produktklasse subjektiv wahrge­nommen wird, zurückzuführen. Zum anderen leitet sich die Unsicherheit aus der begrenzten Informations­verarbeitungs­kapazität des Menschen ab. Im Zusammenhang damit steht die begrenzte Informations­gewinnungs­kapazität, da es oft unmöglich ist, alle relevanten Daten über alle Alternativen zu gewinnen, geschweige denn sie zu verarbeiten. Je weniger der Konsument sich mit dem Markt auseinandersetzt, das heißt die relevanten Informa­tionen verarbeitet, desto größer ist die mit der Kaufentscheidung verbundene Un­sicher­heit.

Durch folgende Maßnahmen kann die Qualitätsverteilung innerhalb einer Produktklasse ermit­telt werden:

durch die Messung der Qualitätsvarianz innerhalb der Produktklasse

durch Ermittlung des prozentualen Anteils akzeptabler Marken je Produktklasse

durch Bestimmung des durchschnittlichen Qualitätsniveaus in der Produktklasse[1]

Diese drei Punkte werden sich in der Operationalisierung der Unsicherheit später wiederfinden.

Neben der Angst vor den negativen Folgen eines Versagens des Produktes hat die Qualitätsver­tei­lung noch eine andere Auswirkung. Bedingt durch die Qualitätsverteilung weiß man nie genau, ob es nicht eine bessere oder eine andere genauso gute Alternative wie die ausgewählte gibt. Dieses Bewußtsein wird als unangenehm empfunden. Letztendlich läßt sich auch dieses Problem wieder auf die negativen Konse­quenzen zurückführen. Wenn der Konsument befürch­tet, daß es eine bessere Alterna­tive als die ausgewählte gibt, dann empfindet er dies deshalb als unangenehm, weil er weiß, daß er negativere Konsequenzen akzeptie­ren muß, obwohl dies nicht notwendig wäre.

Es ergeben sich zwei Möglichkeiten, die Unsicherheit zu reduzieren.

Zum ersten kann die Verteilung der Qualität innerhalb der verschiedenen zur Auswahl stehen­den Alterna­tiven reduziert werden. Hierauf hat der Konsument im Regelfall keinen Einfluß. Zum zweiten kann durch kognitive Anstrengungen versucht werden, sämtliche über die relevan­ten Alternativen vorliegenden Informationen zu verarbeiten. Dadurch würde die Qualitätsvertei­lung zwar nicht geändert, der Konsument hätte jedoch Gewissheit, ob es eine gleichwertige oder bessere Marke auf dem Markt gibt. Außerdem sinkt mit steigendem Informationsgrad die Wahrscheinlichkeit, daß die Zielvorstel­lungen des Konsumenten von der ausgewählten Alterna­tive nicht befriedigt werden. Sobald die Produkte eine gewisse Qualitätsvarianz aufweisen und die Zahl der Produkte ansteigt, dürfte ein Vergleich aller Attribute sämtlicher Marken das Informations­verarbeitungs­vermögen übersteigen. Wie schon angedeu­tet, reicht es nicht alleine aus, die Informationen zu verarbeiten. Bevor die Verarbeitung erfolgen kann, müssen zunächst die entsprechenden Informationen beschafft werden.

Ob und inwieweit der Konsument die Anstrengungen auf sich nimmt, die Unsicherheit zu reduzieren, ist von seiner Motivation abhängig, das Risiko durch Informationsbeschaffung und -verarbeitung zu reduzie­ren. Diese Motivation ist zum einen von seiner individuellen Risikoto­le­ranz und zum zweiten von der Größe der drohenden Konsequenzen abhängig. Die Risikoto­leranz ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die sich vermutlich auf das Maß an Dissonanz zurückführen läßt, die das Individuum zu akzeptieren bereit ist. Das Maß an Risikotoleranz steht deshalb vermutlich im Zusammenhang mit der Ausprägung des Konsistenzmotivs. Wenn Unsi­cherheit und Risikotoleranz fest­stehen, hängt die Größe seines Antriebs von den zu erwarten­den Konsequenzen ab. Je größer die zu erwartenden Konsequenzen sind, desto größer ist die Motivation die Unsicherheit zu reduzieren.


[1] vgl.: Bettman, J. R., (1973), S. 185

Kontroverse Implikationen für die Wiederkaufwahrscheinlichkeit

Wie schon erwähnt, konnte Roselius[1] in einer Befragung nachweisen, daß über 90 Prozent der Ver­suchspersonen bei unterschiedlichen Arten von Risiko die Markentreue als ein geeignetes Mittel ansehen, die Unsicherheit zu reduzieren. Auch Cunningham[2] konnte in einer Untersu­chung feststellen, daß eine signigfikante, positive Korrelation zwischen der Größe des wahrge­nommenen Risikos und der Wahr­scheinlichkeit der Markentreue besteht. Er differenzierte zu diesem Zweck in seiner Untersuchung sowohl nach drei verschiedenen Produkten mit unter­schiedlichen Risikopotentialen, als auch nach verschieden risiko­empfindlichen Versuchsperso­nen. Beide Untersuchungen sind einstellungsorientiert, sie erfassen kein Verhalten, sondern nur Absichtsäußerungen.

Demgegenüber haben Sheth und Venkatesan[3] ein Experiment durchgeführt, in dessen Verlauf sie effek­tive Kaufaktionen beobachteten. Sie wiesen nach, daß mit zunehmender Häufigkeit des Wiederkaufs, also mit abnehmendem wahrgenommenem Risiko, die Wiederkaufwahrschein­lichkeit immer weiter anstieg. Letztendlich kamen sie also zu den Ergebnissen, die Kuehn in seiner Lerntheorie fordert.[4] Diese Ergeb­nisse scheinen im Widerspruch zu den Ergebnissen von Roselius und Cunningham zu stehen. Daß dieser scheinbare Widerspruch logisch zu erklären ist, wird im folgenden deutlich werden.

Nolte[5] leitet vor allem aus den Untersuchungen von Roselius und Cunningham die Aussage ab, daß mit steigendem Risiko die Wahrscheinlichkeit der Markentreue ansteigt. Gegen diese Aussa­ge ist so nichts einzuwenden, denn je größer das Risiko ist, desto weniger ist der Konsument bereit, die bestehende Sicherheit durch den Markenwechsel aufzugeben. Die Aussage ist logisch nachzuvollziehen widersprich jedoch den Ergebnissen von Sheth und Venkatesan[6].

Während bei Roselius und Cunningham die Notwendigkeit der Risikoreduktion steigt, steigt bei Sheth und Venkatesan die Fähigkeit der Marke, diese Risikoreduktion zu bewirken oder anders ausgedrückt das Bewußtsein des Konsumenten, daß die Marke zur Risikoreduktion geeignet ist. Darüber hinaus unterscheiden sich die Untersuchungen von Roselius und Cunningham auf der einen und von Sheth und Venkatesan auf der anderen Seite bezüglich des Zeitaspektes. Erstere waren Querschnitts­untersuchungen. Es wurde lediglich festgestellt, daß verschiedene Risiko­emp­findungen zu unterschiedlicher Wahr­schein­lichkeit von Markentreue führen. Hätten die Forscher die befragten Personen, nachdem diese Marke noch mehrmals konsumiert wurde, nochmals befragt, dann hätten sie vermutlich auch festgestellt, daß zwar das Risiko gesunken, die Wahrscheinlichkeit der Markentreue jedoch ange­stiegen wäre. Das ist genau das Ergebnis, das Sheth und Venkatesan nachweisen konnten. Aufgrund der im Kapitel über Lerntheorien schon ausführlich dargestellten Lernprozesse wurde nämlich im Laufe der Verwendung die betreffende Marke mehrmals aufgrund ihrer Fähigkeiten, das Risiko zu reduzieren verstärkt, was zu einer erhöhten Wiederkauf­wahr­schein­lichkeit führte. Wenn man sich diese beiden Sachverhalte bewußt macht, können damit eine ganze Reihe widersprüchlicher Ergebnisse, die zu diesem Thema vorliegen, erklärt werden. Die Zusammenhänge werden auch an folgendem Zitat deutlich: „It is that perceived risk is a necessary condition only for the development of brand loyalty. The sufficient condition is the existence of well-known market brand(s) on which the consumer can rely.“[7]

Weitere Anhaltspunkte für Risikoverhalten und die Motivation das Risiko auszuschalten, bietet die Aspirationsforschung.[8] Auf diesen Forschungsbereich wird aus Platzgründen und weil nicht abzusehen ist, daß er wichtige neue Erkenntnisse liefert, hier nicht näher eingegangen. Zusam­menfassend wird Hansen zitiert: „In brief, the theories hold that consumers have rather stable expectations as to what they will accept. As long as the products they buy and consume satisfy these aspiration (satisfaction) levels, consumption and purchase will be repeated without much conflict; but when significant negative deviati­ons occur, the consumer will begin to search for new alternatives. On the other hand, when significant positive deviations are experienced, the satisfaction levels are raised.“[9]

Die Aspirationstheorie besagt, daß das Individuum seine Ansprüche an seine Möglich­kei­ten anpaßt. So wird der Konsument seine Ansprüche bezüglich der Risiko­reduktion auch an seine Fähigkei­ten anpassen. Auf diese Weise könnte erklärt werden, warum im Rahmen der Lern­theorie mit steigender Vertrautheit die Markentreue steigt, obwohl das wahrgenommene Risiko sinkt. Hintergrund dürften die parallel gestiegenen Ansprüche bezüglich der Risikoreduk­tion sein.

Man sollte eigentlich vermuten, daß die optimale Kaufentscheidung bei absoluter Abwesenheit jeglicher Unsicherheit getroffen wird. Trotzdem kann man beobachten, daß die Unsicherheit in Kaufsituationen selten vollkommen abgebaut wird. Ein Grund ist sicher, daß die Reduktion von Unsicherheit immer Kosten in irgendeiner Art (kognitiv, finanziell etc.) erzeugt und bei der Unterschreitung eines bestimmten Levels dem Aufwand für die weitere Reduzierung der Unsicher­heit kein entsprechender Nutzen mehr gegenübersteht. (siehe Kapitel 2.6.2.) Außerdem wird in vielen Studien nicht klar zwischen Unsicherheit und Abwechslung unterschieden. Diese Unterscheidung ist jedoch für das später aufzustellende Konzept außeror­dentlich wichtig.


[1] vgl.: Roselius, T., (1971)

[2] vgl.: Cunningham, S. M., (1967a)

[3] vgl.: Sheth, J. N.; Venkatesan M., (1968)

[4] vgl.: Kuehn, A. A., (1962)

[5] vgl.: Nolte, H., (1976), S. 246ff

[6] vgl.: Sheth, J. N.; Venkatesan M., (1968)

[7] Sheth, J. N.; Venkatesan M., (1968)

[8] vgl.: Atkinson, J. W.;Feather, N. T., (1966)

[9] Hansen, F., (1972), S. 84